Gerhard Durlacher
Gerhard mit seiner Mutter Erna Durlacher-Solomonica,1936 in Baden-Baden.
Gerhard mit seinen Eltern, Arthur und Erna Durlacher (geborene Solomonica) 1942 in
Apeldoorn (Holland). Das Bild entstand kurz vor ihrer Deportation nach Westerbork.
Gerhard
Durlacher wurde 1928 in Baden-Baden geboren. Der Vater betrieb ein
Geschäft für Innenausstattung, das im April 1933 mit
antisemitischen Parolen beschmiert wurde.
...“Kauft nicht bei Juden, sie sind euer Unglück“ und
„Die Juden verderben das Volk, Deutsche wehrt euch“. Die
großen Schaufensterscheiben sind verschmiert, mit Davidsternen
aus tropfendem Kalk ... Mutter wagt sich keinen Schritt mehr vor. Aber
der andere SA-Mann hat uns erkannt und sagt mit einer Geste
spöttischer Dienstbeflissenheit: „Gehen sie nur rein,
gnädige Frau, wir verhelfen ihnen bald zur Pleite“ ...
Dutzende Blicke verfolgen uns mit kühler, spöttischer
Gleichgültigkeit oder wenden sich ab, als wir mit klopfenden
Herzen und bleiernen Füßen die weißverschmierte
Ladentür erreichen. Herr Kindler grüßt uns mit einem
gemeinen Grinsen, und mir wird schlecht vor Angst... (Durlacher,
Hamburg 1993)
1934 kam er in die Volksschule und musste täglich erleben, wie
Hitler-Jungen ihn und einen anderen jüdischen Jungen
schikanierten. Anfang der 80er Jahre besuchte er die ehemalige Heimat:
... Betretene Stille, als ich ihre Frage beantworte, was aus uns
geworden sei. Lagernamen fallen wie Steine in eine Schlucht. Befangen
sieht ein Nachbar mich mit unruhigen Augen an, seine Finger zupfen an
einem Knopf: Wir haben nichts gewusst, die haben uns den ganzen Krieg
lang für dumm verkauft. Der kleine Junge von damals und der
reflektierende Erwachsene wissen es genauer: Dies ist kein Land von
Blinden, Stummen, Tauben. Jeder, der hören wollte, konnte
hören. Jeder, der sehen wollte, konnte sehen ... Die
Maßnahmen zu unserer Isolierung, mit denen sie Tag für Tag
ein Stück von unserer Freiheit abschnitten, standen in fetten
Lettern in allen Zeitungen. Unzählige Deutsche ließen sich
zur Barbarei verleiten. Unzählige Deutsche, gleichgültig oder
vor Angst gelähmt, sahen uns direkt vor ihren Augen ertrinken. Nur
einzelne Mutige ... retteten einen Ertrinkenden aus den Fluten...
Gerhard Durlacher war neun Jahre alt, als seine Familie 1937 beschloss,
Zuflucht in den Niederlanden zu suchen. Die Familie lebte in Rotterdam
und versuchte, mit einem Schiff nach Großbritannien zu fliehen.
Sie fanden einen Unterschlupf in Apeldoorn, bis sie im Oktober 1942
verhaftet und in das Durchgangslager Westerbork verbracht wurden. Im
Januar 1944 erfolgte die Deportation nach Theresienstadt, wenige Monate
später, im Mai 1944, in das „Theresienstädter
Familienlager” in Auschwitz-Birkenau. Im Juli 1944 wurden alle
Insassen des „Familienlagers” nach vorhergehender Selektion
der Arbeitsfähigen ermordet.
Vater und Mutter werden zur Zwangsarbeit bestimmt. Gerhard hat sie nie
wiedergesehen: die Mutter ist im Februar 1945 im KZ Stutthof, der Vater
einen Monat später im KZ Bergen-Belsen ums Leben gekommen. Gerhard
wurde bei der Selektion mit einer Gruppe von Jugendlichen in das
Männerlager Blld überstellt und im Oktober 1944 mit einem
Transport in ein Außenkommando des KZ Großrosen
verfrachtet. Trotz schwerer Entzündungen an den Beinen musste er
weiter Zwangsarbeiten leisten, wurde nochmals verlegt, zunächst
nach Dornhau und von dort in ein Schotterwerk, wo er in den ersten
Maitagen 1945 die Befreiung durch
die Rote Armee erlebte. Er hatte Flecktyphus und wurde vom
Tschechischen Roten Kreuz nach Prag gebracht. Zu schwach für eine
Heimreise mit dem Lkw, organisierten zwei Niederländer seinen Flug
nach Paris, wo er Männer aus dem holländischen Widerstand
traf, die aus den KZs Buchenwald und Dachau zurückgekehrt waren.
Sie halfen ihm bei der Rückkehr in die Niederlande. Ein
rückblickender Bericht von Anneke Durlacher, Ehefrau des
inzwischen verstorbenen Soziologen und Auschwitzüberlebenden
Gerhard Durlacher:
... Nachts hörte ich oft, wie er Alpträume hatte, über
die er dann tagsüber nicht reden wollte. Wenn ich danach fragte,
konnte er sehr zornig werden, oder er bekam diesen nach innen gekehrten
Blick und verließ das Zimmer. Er war oft krank, hatte auch ein
schwaches Herz, wurde schnell müde, und wir wussten, dass dies mit
den Entbehrungen zu tun hatte, die er in den Lagern hatte erleiden
müssen... Den Krieg hatten wir aus unserem Leben
verdrängt, auch wenn Gerhard sehr oft krank war und plötzlich
wegen einer Kleinigkeit sehr wütend werden konnte. Wenn er
gelegentlich in der Zeitung etwas über die Lager las, schlug er
sie gleich wieder zu, und ein Freund, der einmal etwas über
Auschwitz wissen wollte, wurde beinahe vor die Tür gesetzt.
Über das Thema konnte nicht mehr gesprochen werden... Erst
später begriff ich, dass sich Gerhard für seine
Kriegsvergangenheit schämte, dass er sein Leben in den
Konzentrationslagern als furchtbare Erniedrigung empfunden hatte. Wenn
er daran dachte, sah er sich selbst wieder als mit Läusen
übersätes Gerippe, menschlichen Abschaum. Seine
Auschwitz-Nummer hatte er sich vom Arm entfernen lassen, für ihn
war sie ein verabscheuenswürdiges Brandmal. Darum verdrängte
er mit aller Macht seine düsteren Erinnerungen und wollte und
konnte nicht seinen Kindern davon erzählen...er [wurde] wieder
ernsthaft krank [wurde], und die Betriebsärztin der
Universität riet ihm, zum Psychiater zu gehen, da sie vermutete,
seine häufigen Erkrankungen hätten mit seinen
Kriegserlebnissen zu tun. So kam Gerhard zu Professor Bastiaans, der
ihn acht Mal mit L.S.D. behandelte, um seine Kriegserinnerungen wieder
hervorzubringen. Danach unterzog er sich einer Psychoanalyse und fing
an, seine Jugenderinnerungen und seine Kriegserlebnisse
aufzuschreiben... (Bericht von J.A.P. Durlacher-Sasburg, Haarlem, den
16. August 2001)
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